Sehr spätes Nachspiel Resümée

10.12.2018.

Am Anfang dieses unvermuteten Kapitels stand die unvermittelte Nachricht meiner Schwester. Sie las sich in etwa wie folgt:
„Hey am ... . Dezember ist ein Weihnachtsfest der Gruppe in ... . Hast du auch Lust zu kommen? Es kommen ganz viele Leute und es gibt einen Riesenweckmann und wir bauen ganz viele Spielestationen auf.“

Und wie ich war, sagte ich nicht nein. Nein, ich sagte, dass es nett klänge. Ich hatte mich gefragt, weswegen sie dorthin ginge und warum sie mich einlüde. Gefragt und nicht gefragt.
Der Tag kam. Auch wenn die vorherigen holprig waren und mich auslaugten, zu weniger Schlaf und anhaltende Bauchkrämpfe mich niederstreckten, ich dennoch von einem Termin zu zwei Stunden Pause bis drei zum nächsten pendelte, saß, wartete, ablieferte, oder bloß da war. Und Schmerzen um mich herum präsent schienen. Ich mir Sorgen um meine machte, aber sie irrelevant waren. Dann kam nach Pendeln zurück nach Hause die Zeit, aufzubrechen. Und ich meinte noch, ich weiß gar nicht, wie würde es da?

Wie wird es, Menschen zu begegnen, die meinen Entscheidungen widersprechen, die ich nach Hunderte von Tagen Bedenkzeit als haltlos als die richtigen ansah? Wie es ist, Menschen in die Augen zu blicken, die bewusst mit der Krankheit vor Augen ihre Kinder bekamen, sie ihr Elternteil verlieren sahen, sterbend, das andere, sich darum kümmernd, zerbrechend, und selbst die Angst eingepflanzt zu kriegen, die mögliche Chance, es selbst zu haben, Kinder zu kriegen mit ebendiesem oder sich den Wunsch hart abeignen zu sollen, weil es der einzige Weg gegen diese Krankheit wäre.
Wie es wohl wäre? Ich weiß, viele bestehen auf ihren eigenen biologischen Nachwuchs. Mit vielen Krankheitsgefahren, Krebsanlagen, und viel weiter gestreuter mit Beeinträchtigungen, wie Blindheit, Taubheit, gegen welche ich gar nichts einzuwenden habe. Aber wenn so eine essentielle Krankheit wie die CH nur durch die Vererbung doch so eingehemmt werden könnte und dein Tod als Elternteil so klar ist, finde ich es unverantwortlich.
Und sie stünden vor mir, mit ihren Kindern, und alle Kindern sind toll, sie lachen, spielen und grinsen dich an, und du kannst nur denken, wie herzlos es war, unbedingt auf das biologisch Eigene zu setzen.
Es muss doch klar sein, dass unsere Biologie verdorben ist. Alles Gute, das darum verwoben ist, vergeht damit. Das ist unser Preis.
Unsere Krankheit ist eine, die wir mit viel Stärke und geradem Rücken tragen müssen. Sonst wäre es nicht das, was wir so viele Jahre durchdenken und durchstehen müssten.
Wir haben die Verantwortung und nur wir selbst können handeln, die Veränderungen zu bewirken. Oder wir können immer wieder, und immer wieder, das Leid erzeugen und provozieren...

Dann gibt es andere, da geschah es einfach, von mir aus. Da sehen wir die Gesichter, die es betrifft, die das ereilen wird, bei dem so viele zu Beginn so viel Hoffnung sehen. In die Forschung, und die baldige Rettung, die Verzögerungen oder Verhinderungen. Und ganz kluge Menschen werfen dann mit den Begriffen um sich, wie Vektor- RNA-Transmitter-Therapien oder dem eigentlich sehr nichtssagendem Gene Silencing. Die hörte ich selbst an der Universität von den Ärzten, die mit in Bochum in dem Zentrum dagegen arbeiteten und forschten. Deren Erklärungen, wie alle in der Theorie heruntergebrochenen, sind ganz plausibel und die Gefahr immer darin, etwas einschleusen zu wollen, das nur etwas Bestimmtes abtötet und das Restliche nicht und alles je im passenden Maße.
Es ist, Generation zu Generation, und Jahrzehnt zu Jahrzehnt, die ewig gleiche Hoffnung, die kurzzeitig leuchtenden Gesichter. Und Generation zu Generation sterben da welche, Jahrzehnt zu Jahrzehnt sind sie fort und andere hinzugekommen. Irgendwann kennt man vielleicht die Forschung – erkennt die Schemata aus Berichten, die guten psychosozialen Bedingungen, wie es ihnen ginge, die tollen physiologischen Parameter, wie die Schrittlänge sei. Wie schön die Patienten in das Zentrum zur jährlichen Erhebung gebeten würde.
Und wenn sie nicht mehr können?
Wenn sie nicht mehr zu den Treffen kommen, da, wo die Krankheit mit den Gangschwierigkeiten und der etwas verwaschenen Sprache doch noch Mut macht? Wer ist denn da, wenn es schlimm wird? Sie sind nicht mehr erhoben durch das Zentrum, da nicht mehr vorstellung. Abbrecher in der Statistik. Und weg aus dem Fokus.
Das wirkliche Leid, die einsame Zeit, ist herausgenommen.
Das da eine Mutter war, alleine, einsam, die nie erfuhr, wie das Schicksal ihrer zweiten Tochter wohl aussähe, das ist ausgeklammert, verleugnet, verdrängt.
Ihr Tod als Anstoß. Andere als Anschluss.
Und zu mir wird gesagt, meine Onlineforen wären keine gute Anlaufstelle gewesen, man bräuchte doch das persönliche. Und sagt man mir so, als 23-Jährige zu meinem vergangenen durchschnittlich 15,5-jährigen Ich. Wie alleine dahin kommen? Und wofür? Ich mochte und mag meine Bekannten noch viel mehr mit ihrer Breite an Symptomen. Vielleicht mochte ich das so am heterogenen Therapiekonzept meiner ersten Praktikumspsychiatrie. Entgegen der Vereinheitlichung der typischen. »Du hast Huntington. Geh in die Selbsthilfegruppe dafür, sauge dich damit voll, immer und immer wieder.«
Ich lernte gerne von mir weg, für andere. Und es fanden sich ja Puzzlestücke zusammen, viel schöner zusammen, als ein immer gleiches Muster vorzufinden.
Man kann den Ablauf beruhigend finden. Ich finde ihn frustrierend. Ich weiß, ich muss noch daran arbeiten, letztendlich Abschied zu nehmen und doch nicht endgültig. Es geht um Tod und dennoch weiterleben. Diesen Schmerz scheinen nicht durchgehend alle zu empfinden, bei denen ich es erwartet hätte. Der Schmerz des Lebens, des langen Lebens. Mit einem Satz oder weniger ist es oft abgetan. Und bei anderen merkt man es – doch vorbehaltlich ist es wieder den Alten.
Wieder abwarten, Zeit absitzen, um das angemessene Alter erreicht zu haben, das zu durchleben, das schon jetzt in einem steckt, lebt, und mit der Zeit dahin einfach nur stirbt, zu einer nichtigen Hülle wird.
Dafür hat man Zeit. Plötzlich müssen deine Träume ja nicht zählen, dass jemand euphorisch sagt, man sei wichtig genug, komm, erleben wir es zusammen – und jetzt.
Du hast die Konstante Zeit und sollst warten. Irgendwann kommt es für jeden. Warte deine Nummer ab in der Produktionsmaschinerie. Sind schon mindestens sechs Paare vor dir durch die Maschinerei Eheschmiede und Kinderstation gegangen? Wurden die Maschinen noch einmal gewartet für ein Jahr dazwischen? Sind da wieder rationale Außenumstände unpassend? Dann müssen da noch ähnlichere Prototypen zuerst durch. Oder der Warteschein verliert schlicht Gültigkeit.

Kurz nach Schreiben dieses ersten Teils und schon währenddessen, sowie kurz davor, lagen meine Nerven blank. Kennt ihr das, wenn aus dem Inneren heraus ihr einfach schreit? Ihr könnt gar nicht auf einem niedrigeren Niveau wütend sein. Ihr schreit laut eure Worte der Welt entgegen – oder den Personen, die in dieser vielleicht gerade vor euch stehen. Natürlich nicht schlicht so. In deinem plötzlichen Zusammenleben mit deinem Partner, das sechs Jahre brauchte. Du stehst da in einer Wohnung, für die du vorher drei Jahre in einer schlechteren gewohnt hattest, und schreist. Du schreist und Tiere würden erstarren, Tiere, die nach denen kamen, die du für über acht Jahren geliebt hattest.
Und du bist schlicht wütend.
Und die Nacht davor so zu Tränen aufgewühlt, während dein Mann einschläft, gemeinsam mit dir wohnend, und du schläfst alleine, mit knappen Tränen und abgewürgten Gedanken. Du holst sie dankenswerter Weise den nächsten Tag über zwei Stunden nach. Du erinnerst dich durch Rückfragen deiner Schwester, jetzt deinem Partner, an dem Versuch, etwas zu erklären, was manchen so fremd ist und in nur teils ähnlichen Situationen ihnen so nicht genommen werden soll.
Wenn du merkst, dass da etwas ist, dass Wichtiges von dir, so fundamental, seit Jahren eingeschlichen unverstanden war und du als Person nicht zähltest, zerbricht es dir das Herz.
Und das war für mich das Resultat, mich die fünf Jahre zurückzubewegen, um auf den Stand zu kommen, den meine Schwester sich jetzt erlaubt hat. Über ein »erst« in dem Satz, darf ich nicht urteilen.

Nach dem Sturm frage ich mich: »Wieso denn?« Ich verstehe irgendwo, dass sie Hilfe braucht, dass ich und unsere Familie nicht das sind, das Ersatzfamilien, Mütter, die lieben und so sanft sprechen, mit Kindern, die ich bedingungslos auch toll finde, ihr etwas geben. Sicher mehr Licht und Sonnenschein, als unsere Sonne, in dem festen Raum.
Und so hat man zwei Töchter und so gehen sie ihren Weg, und oftmals nicht zusammen.
Musste ich gerettet werden und eingeladen?
Wenn es mich so mitnimmt, so an mir kratzt und mich noch zerbrechen lässt für die folgenden zwei Tage und die Stunde davor?

Ich vermute, ein Stück weit bleibt es in mir. Ich bin in die Vergangenheit eingetaucht. Einen Teil davon gibt es noch, und es ist krass, zu sehen, wie die Zeit vergeht, wie zu Menschen geschrieben wird, es sei das 15. Jahr. Wie es dich gruselt und schauert. Und die Frage, wieso du erleichtert warst, das sie doch noch leben.
Und Abschiede. Foren und Gruppen, die dir wichtig waren, wie sie mit der Zeit vergingen und sich die letzten kurz verabschiedeten. Und ich dann, nun wieder, mit positiven Worten und Sichtweisen Abschied nehmen wollte, willkommenheißen und nicht verteufelnd.
Und doch hier stehe.
Ich weiß, ich habe viel erreicht und viel geschafft in der Zeit damals, die schlicht die schlimmste hätte sein können und werden können – und ich verdanke es den vielen warmherzigen Menschen und danke ihnen verewigt nun hier.

Ich danke euch – Renate, Nada, Sleepless, Silencer (Sil), Tina, Blue, Thomas, Tüfeli, Anna, rosarot & die weiteren, die mir als fabelhafte gesichtslose, doch so klare Gestalten in mir, wie ein loderndes Feuer, jedes in seiner Farbe, präsent sind. Ich danke euch. Und wenn mein Herz ein Löwenherz ist, so ist es das wegen euch.

Andere werdem ihre Personen in ihrem Herzen je auf ihren Wegen und für sich finden und ihre Stärke erlangen.


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